Die Winterreise – eine komponierte Interpretation
von Franz Schubert,
Interpretation: Hans Zender

3. Februar 2024 (Premiere)
Verein Begegnungen 2005 im Robert-Schumann-Saal, Kunstpalast Düsseldorf

Franz Schuberts Liederzyklus Die Winterreise, 24 Lieder für Singstimme und Klavier, reizt immer wieder Komponisten zu Bearbeitungen, zumeist unter Variation der Instrumentation. Eine wegweisende Neufassung verfasst der Komponist Hans Zender, Begründer des Ensemble Modern, unter dem programmatischen Titel Schuberts Winterreise. Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester, die 1993 erstmals erklingt. Jetzt wird sie unter ungewöhnlichen Vorzeichen im Robert- Schumann-Saal des Kunstpalasts Düsseldorf aufgeführt. Als Kern eines Benefizkonzerts, das auf dem Grundton von Schuberts metaphysischer Düsternis die Romantik des alten Europas in einer politischen Dimension mit den Konfliktherden unserer Gegenwart verknüpft.
Schuberts Komposition, auf Texten des Dichters Wilhelm Müller im Herbst 1827, ein Jahr vor seinem Tod, entstanden, fängt in einer Serie von
Momentaufnahmen die Situation und die Gefühle eines „lyrischen Ichs“, eines verlorenen Menschen ein, der der Welt abhanden zu kommen droht. In Zenders „komponierter Instrumentation“ bleiben die Melodien der einzelnen Lieder wesentlich erhalten. Der Klaviersatz dagegen wird durch Einsatz von Holz- und
Blechblasinstrumenten, Schlagzeug, Windmaschine, Harfe, Gitarre und Akkordeon instrumentiert. Das geschieht nicht durch einen simplen Austausch eins zu eins, sondern durch Erschaffung völlig neuer Resonanzräume, die auf menschliche Vorstellungen und historische Schauplätze zurückgreifen. Das Dorf etwa, der Fluss, der Lindenbaum, die Wasserflut.
Als Ausführende dieses Zenderschen Kosmos tritt ein Ensemble von Musikern auf, das in dieser Zusammensetzung einmalig in der Welt sein dürfte. 24 solistische Künstler des Kammerorchesters Ensemble Pace, womit im Titel der Begriff Frieden aufgegriffen wird. Sie stammen nach Angaben des Veranstalters, des Vereins Begegnungen 2005, aus der Ukraine, Belarus, Moldawien, Russland, Palästina, Israel, Haiti und Kuba und leben überwiegend als vor Jahren eingewanderte Kontingentflüchtlinge, aktuelle Kriegsflüchtlinge und sonstige Schutzbedürftige unter meist prekären Verhältnissen in Nordrhein-Westfalen.


Dazu als Interpret der Gesangsstimme der ukrainische Tenor Konstantin Zhuchenko. Ferner als Leiter Julius Günter Rüdell, ehemals Chefdirigent des Staatlichen Sinfonieorchesters der Republik Belarus, der 2020 Minsk aus politischen Gründen verlassen muss. Rüdell ist auch als Geschäftsführer von Begegnungen 2005 engagiert.


Die Einnahmen des Düsseldorfer und weiterer zunächst in Dortmund und Viersen vorgesehener
Benefizkonzerte sind hauptsächlich für kriegsversehrte Musiker und deren Kinder vorgesehen, die im zentralen Krankenhaus in Iwano-Frankowsk südlich von Lemberg untergebracht sind. Zum anderen zur Behandlung von fünf verletzten Musikern des aus Charkiw emigrierten Orchesters, das derzeit in einem Hotel in der Nähe von Bratislava lebt.

Mit der Introduktion zu Gute Nacht, der kurzen komponierten Stille, den leisen Geräuschen des Schlagwerks, dem Stakkato-Einsatz von Violinen, danach dem Hinzutreten von Oboe und Flöte, entsteht binnen Nu eine besondere, mehr und mehr beklommene Atmosphäre im Saal. Sie korrespondiert mit dem episodischen Abschied des „lyrischen Ichs“ von seinem bisherigen Zuhause und seiner Liebsten im Eingangslied. Sie korrespondiert auch mit der generellen Intention Zenders, der eisigen Kälte der Lieddichtung schneidenden Ausdruck zu vermitteln.

Zender will die existentialistische Tiefe der Komposition gegen die romantische Aufführungstradition „mit Frack

und Steinway“ behaupten.


Von Lied zu Lied, von Abgrund zu Abgrund in Müllers Kaleidoskop des Untergangs spielt und windet sich das Ensemble Pace im engen Dialog mit dem Tenor Zhuchenko in Zenders Komposition. In die Klangwelten zwischen den Polen enervierender Dissonanz und romantisch verklärter wie karikierter Dorfidylle, denen Rüdell als umsichtiger Leiter Raum wie Tiefe gibt. Dabei hapert es begreiflicherweise nach, wie bekannt wird, gerade einmal vier Proben-Wochenenden, an manchen Stellen. Im Ausdruck einzelner Instrumente wie in der komplexen Interaktion. Gleichwohl steigern sich die Musiker in eine Leistung, die für sich steht, die vermutlich nicht frei vom Kontext des realen Lebens jedes einzelnen zu sehen ist.


Die anspruchsvolle Aufgabe, einen Ausgleich zwischen dem romantischen Überbau einer Jahrzehnte umfassenden Aufführungspraxis und der Rigidität des Stoffes zu finden und in eine Linie zu überführen, muss insbesondere der Solosänger lösen. Zhuchenko gelingt das zu einem gewissen Grad, wobei insbesondere seine Aneignung des spröden

Müllerschen Textes imponiert. Er verfügt über eine ausdrucksfähige, in der Höhe gut beherrschte Stimme, die er flexibel und auf den Buchstaben pointiert einzusetzen versteht.

Wie sehr aus seinem Bemühen auch gewaltige Anstrengung werden kann, macht Mut, das drittletzte Lied, erkennbar, wenn sich das „lyrische Ich“ gegen seinen endgültigen

Zusammenbruch auflehnt. Wenn Zhuchenko sich mit einem extremen Forte gegen das vom Schlagwerk erzeugte Geheule des Windes zu behaupten sucht.


Nach der auch dank einer Pause auf eine Gesamtspieldauer von zweieinhalb Stunden gedehnten Aufführung nimmt das Publikum im etwa zur Hälfte gefüllten Saal alle Mitwirkenden durch anhaltenden Jubel gleichsam in sein Herz. Die Künstler haben durch ihr außerordentliches Engagement vielfältige Gelegenheiten geschaffen, über die Welt nachzudenken, die der Kunst wie die der irdischen Zerbrechlichkeiten. Diese Winterreise hat das Zeug, über Anlass und Zielsetzung hinaus Empathie zu stiften.


Ralf Siepmann, O-Ton

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